2.9 Ein blauer Todesblitz - Mutter des Friedens - Hak Ja Han Moon - Memoiren

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- Kapitel 2 - Ich kam als die eingeborene Tochter in diese Welt -



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Ein blauer Todesblitz


Es war früh an einem heißen Sommermorgen. Rote Fleißige Lieschen blühten auf der einen Seite unseres Hofes und dicke, alte Weiden und Platanen standen entlang der Straße. Ich war damals sieben Jahre alt, aber ich erinnere mich noch genau an den Moment, als ein verzweifelter Nachbar in unser Wohnzimmer stürmte und rief: „Krieg ist ausgebrochen! Die nordkoreanische Armee hat den 38. Breitengrad überschritten!“


Besorgte Bewohner versammelten sich in kleinen Gruppen in der Gasse. Ich hatte mich an das geregelte Leben im Süden gewöhnt; als aber die nordkoreanische Volksarmee ihre Invasion begann, war unsere kurze Atempause vorbei. Alle waren verängstigt, Regierungsmeldungen vermischten sich mit Gerüchten und niemand wusste genau, was vor sich ging.

Was wirklich geschah, war, dass die südkoreanische Übergangsregierung zusammenpackte und in die Stadt Daejeon, 150 Kilometer südlich von Seoul, umzog. Die Regierung befahl der südkoreanischen Armee, die Brücke über den Fluss Han, die einzige Brücke auf der Südseite von Seoul, in die Luft zu sprengen. Sie erwartete, dass nordkoreanische Truppen bald in Seoul eintreffen würden, und sah keine Möglichkeit, die Stadt zu schützen. Ihre Strategie war, die kommunistische Armee daran zu hindern, den Fluss zu überqueren. Sie konnte wenig bis gar nichts tun, um den Bewohnern der Stadt zu helfen, die nach der Verteidigung von Seoul schrien.

Zwei Tage später wachte meine Mutter im Morgengrauen auf und begann, unsere Kleider in ein Bündel zu packen. Vom Rascheln wurde ich geweckt, hielt aber meine Augen geschlossen und hörte ihrem Gespräch mit meiner Großmutter zu. „Wir müssen eine Zuflucht suchen“, sagte meine Mutter. „Wenn die Kommunisten hierher kommen, werden sie uns töten.“

„Ich weiß, dass sie schlimm sind“, antwortete meine Großmutter, „aber denkst du, dass sie Frauen brutal behandeln würden?“

„Wenn sie herausfinden, dass wir aus dem Norden geflohen sind“, erwiderte meine Mutter, „werden sie uns wahrscheinlich auf der Stelle töten.“

Am Abend des 27. Juni 1950, zwei Tage nach dem Ausbruch des Koreakriegs, strömten die Einwohner Seouls bei sanftem Sommerregen aus den alten Stadtvierteln. Je mehr ihnen bewusst wurde, dass sie nicht die Einzigen waren, die zu entkommen versuchten, und dass sie alle dieselbe Brücke überqueren mussten, desto ernster und verzweifelter wurden sie. Es herrschte Krieg. Meine Großmutter, meine Mutter und ich schlossen uns mit unserem Bündel dem Exodus an und folgten der Menschenmenge, die sich auf die Han-Brücke zubewegte. Als die Umrisse der Brücke in der Dunkelheit sichtbar wurden, sagte mir etwas, ich solle anhalten, und ich griff nach dem Rock meiner Großmutter. Sie blieb stehen und meine Mutter drehte sich um und fragte sie: „Mutter, was ist los?“

Großmutter schaute zum Himmel hinauf und blickte dann zu mir herunter. Dann drehte sie ihren Kopf wieder in Richtung unseres Hauses. „Vielleicht kommt Soon-jeong“, sagte sie mit ruhiger Stimme. Sie sprach von ihrem Sohn, meinem Onkel. Es schien sinnlos umzukehren, wenn alle anderen aus der Stadt flohen, aber sie war fest entschlossen. „Lasst uns zurückgehen, für den Fall, dass er kommt.“

Meine Mutter verstand das. Wir drei machten uns auf den Heimweg, entgegen dem Strom der Menschenmassen. Als wir nach Hause kamen, breitete ich meine Decke aus und legte mich zum Schlafen nieder. Aber es dauerte nicht lange, bis ich vom Lärm eines Dreivierteltonner Pick-Up geweckt wurde. Als die Tür plötzlich aufgerissen wurde, erhellten seine Scheinwerfer unser Zimmer. Da stand mein Onkel in seiner Militäruniform. Großmutter und Mutter seufzten erleichtert und hoffnungsvoll. Ich dachte bei mir: „Jetzt können wir aufbrechen“, und empfand ebenfalls Erleichterung.

„Beeilt euch“, rief er. „Wir müssen sofort los!“ Onkel Soon-jeong, der als Militär-Mediziner im Hauptquartier der Armee stationiert war, war über den Kriegsverlauf informiert. Sobald er hörte, dass die südkoreanische Armee die Zerstörung der Han-Brücke vorbereitete, forderte er einen Pick-Up an und raste zu unserem Haus, weil er wusste, dass seine Familie in Gefahr war. Er hatte den Pick-Up mit laufendem Motor in unserer nebeligen Gasse abgestellt. Wir kletterten mit unserem bereits gepackten Bündel hinein und sogleich fuhr er in Richtung Brücke. In den Stunden vor der Morgendämmerung wimmelte es dort von Flüchtlingen, die aus allen Richtungen strömten, was ein totales Chaos verursachte.

Auf der verstopften Straße kamen wir nur im Schneckentempo voran. Als Offizier der Armee hatte mein Onkel den offiziellen Passierschein, der erforderlich war, um mit einem Fahrzeug über die Brücke zu fahren. Er hupte und fuhr mit dem Pick-Up durch die Menschenmenge. Ich klammerte mich an meine Mutter und blickte auf die Menschen, die aus ihren Häusern flohen. Ihre Angst und Verwirrung wurden von Minute zu Minute größer.

Kaum hatten wir die Brücke überquert, rief mein Onkel: „Bückt euch runter!“ Als ich mich zu Füßen meiner Mutter auf den Boden drückte, erschütterte eine gewaltige Explosion hinter uns unseren Pick-Up. Es gab einen blauen Lichtblitz und ein ohrenbetäubendes Geräusch. Mein Onkel machte eine Notbremsung und stellte den Motor ab. Zusammen sprangen wir aus dem Pick-Up und kletterten hinunter in den Graben am Straßenrand. Ich wandte mein Gesicht der Brücke zu und wurde Zeugin der nächsten Explosion. Ich sah ein Licht, das wie die leuchtenden Augen eines Dämons die Nacht durchdrang. Unzählige Zivilisten sowie Soldaten und Polizisten, die gerade die Brücke überquerten, wurden herumgeschleudert wie Plastikspielzeug, flogen überall durch die Luft und stürzten in den Fluss. Ein paar Meter machten für uns den Unterschied zwischen Leben und Tod aus. Unser Leben war verschont geblieben.

Ich schloss meine Augen und viele Gedanken schossen mir durch den Kopf. Warum beginnt jemand einen Krieg? Warum müssen unschuldige Menschen sterben? Warum lässt Gott solchen Schmerz und solches Leid zu? Wer kann diesem Wahnsinn ein Ende bereiten? Ich konnte mir keine Antworten vorstellen. Als ich meine Augen wieder öffnete, sah ich, dass die Brücke in zwei Teile zerbrochen war. Das Militär hatte seinen Auftrag auf Kosten von hunderten von Menschenleben erfüllt. Was zwischen den Leichen, den schreienden Verwundeten und den benommenen Überlebenden zurückblieb, war ein hässliches Stahlskelett, das in der Dunkelheit schwelte.

* * *

Die Han-Brücke wurde am 28. Juni 1950 um 3.00 Uhr morgens gesprengt. Obwohl die südkoreanische Regierung angekündigt hatte, dass sie Seoul verteidigen würde, unterbrach sie die einzige Verbindung in die Sicherheit, noch bevor die nordkoreanische Volksarmee in die Stadt einmarschierte. Hunderte von Menschen, die aus der Stadt flohen, wurden getötet. In dieser verzweifelten Lage wurden durch die Hilfe meines Onkels mein Leben und das Leben meiner Familie gerettet. Gott führte uns in diesem kritischen Augenblick und beschützte uns vor den Gefahren.

Wenn ich eine Brücke über den Fluss Han überquere, sehe ich auch heute noch diesen blauen Blitz vor mir und höre die gequälten Schreie der Menschen, als ob sie noch immer in dieser Hölle brennen würden. Mein Herz schmerzt beim Klang der Schreie. In jungen Jahren wurde ich unmittelbar Zeugin der Schrecken des Krieges und erlebte das erbärmliche Leben eines Flüchtlings. Einfache, unschuldige Menschen wurden wie Fliegen getötet. Kinder, die ihre Eltern verloren hatten, irrten weinend durch die Straßen. Ich war erst sieben Jahre alt, aber es wurde mir so ernst darum, dass Kriege für immer aus dieser Welt verschwinden müssen. Das war vor 70 Jahren, aber meine Kehle schnürt sich immer noch zu, wenn ich mich an die Nacht erinnere, in der die Han-Brücke zusammenbrach.

* * *

Nachdem uns mein Onkel, der zum Militärdienst zurückkehren musste, verlassen hatte, gingen Großmutter, Mutter und ich, kaum in der Lage, uns auf den Beinen zu halten, auf unbekannten Pfaden immer weiter in Richtung Süden. Gelegentlich wurden wir von einem vorbeifahrenden Auto mitgenommen. Weil wir ein Dokument über die Stellung meines Onkels als Mediziner vorlegen konnten, fanden wir schließlich Schutz in einem Flüchtlingslager für Militärfamilien.

Als sich der Kriegsverlauf änderte, kehrten wir am 28. September nach Seoul zurück. Das südkoreanische Militär hatte die Kommunisten vertrieben und wieder eine passierbare Brücke über den Fluss gebaut. Wir wohnten in einem leerstehenden Haus, das die Soldaten aus dem Norden zuvor besetzt hatten und in das die Besitzer nicht zurückgekehrt waren.

Dann wendete sich der Kriegsverlauf erneut. Eine halbe Million kommunistischer chinesischer Truppen drangen über den Fluss Yalu in Korea ein. Am 4. Januar 1951 gab die südkoreanische Armee Seoul erneut auf und wir mussten wieder fliehen. Diesmal konnten wir einen Zug für die Familien der Soldaten benutzen, der uns sicher in die Stadt Daegu brachte.

Was wir während dieser Zeit der Flucht vom Norden in den Süden Tag für Tag sahen und hörten, lässt sich nicht beschreiben. Ich sah unzählige Leichen – Erwachsene, Kinder, Opfer von Erfrierungen, von Hunger, Krankheiten und Kämpfen. Auch meine Familie und ich standen am Abgrund des Todes, aber irgendwie hatte ich während dieser Reise, bei der es ums pure Überleben ging, das Gefühl, dass Gott mit uns war. Es gab eine höhere Macht, die unsere Familie beschützte, als wir aus dem Norden flohen und im Süden Zuflucht fanden. Die Himmlischen Eltern gaben mir mehr als ein Gefühl von Sinn und Wert. Sie gaben mir einen Maßstab, an dem ich meine Lebensaufgabe messen konnte.



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