1.1 Eine Frau ruft Mansei für die Unabhängigkeit - Mutter des Friedens - Hak Ja Han Moon - Memoiren

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- Kapitel 1 - Mein lebenslanger Herzenswunsch -



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Eine Frau ruft „Mansei!“ für die Unabhängigkeit

Es war der erste Tag im März des Jahres 1919, der Frühlingsanfang nach dem Mondkalender. Die Temperaturen blieben unter dem Gefrierpunkt und die Menschen in Anju, einem Dorf in der Provinz Pyong-an im heutigen Nordkorea, litten unter beißendem Frost. Eine Frau trotzte der Kälte und bereitete das Frühstück für ihre Familie vor. Sie zündete das Holzfeuer an und stellte Reis auf den Herd. Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit von der morgendlichen routinemäßigen Arbeit ab. Sie hob ihre Arme und holte vorsichtig hinten aus einem Schrank einen Gegenstand heraus, der in ein einfaches Baumwolltuch gewickelt war.


Im Licht des Feuers und eines Sonnenstrahls, der durch einen Spalt unter der Tür hindurchschien, knotete die Frau das Tuch auf und enthüllte ein weiteres, größeres und festeres Tuch, eines mit einem roten und blauen Yin-Yang-Symbol auf weißem Grund. Als sie es auf den Tisch legte, wurde das Muster auf dem größeren Tuch deutlich sichtbar. Es war eine koreanische Flagge. Dieses Emblem ihres Volkes war immer in den Gedanken dieser Frau und erschien sogar in ihren Träumen. Tiefe Emotionen und ein Gefühl von Traurigkeit strömten in ihr Herz. Als sie das leise Rufen ihrer Tochter hörte, die gerade erwachte, rollte sie die Flagge ein, verpackte sie wieder und legte sie zurück in den hinteren Teil des Schranks.

Mit ihrer fünfjährigen Tochter auf dem Schoß frühstückte diese Bauersfrau mit ihrem Ehemann, der von seiner frühmorgendlichen Arbeit auf den Feldern zurückgekehrt war. Dann beschäftigte sie sich mit dem Putzen der Küche, des Wohnzimmers, der Veranda und des Hofes. Kurz nach Mittag verließ sie das Haus mit einem erwartungsvollen Herzen. Mit ihrer Tochter auf dem Rücken und der Flagge an ihrer Brust versuchte sie ganz gelassen zu wirken.

* * *

Ein schmaler Schotterweg schlängelte sich durch ihr Dorf zum Markt von Anju. Er mündete in eine größere Straße, auf der sie andere traf, die auch unterwegs waren – einen Bauern, der eine Kuh führte, einen jungen Mann, der eine schwere Last auf einer traditionellen Rückentrage trug, eine Mutter mit einem Bündel auf dem Kopf. Einige gingen gemächlich, andere schnell, alle waren auf dem Weg zum Markt. Als die Frau an ihrem Ziel ankam, blieb sie vor einem Gemüsestand stehen, der zentral in einem der am stärksten frequentierten Bereiche des Marktes gelegen war. Ihre Tochter erwachte von ihrem Mittagsschläfchen auf dem Rücken ihrer Mutter. Die Mutter drehte ihren Kopf, sah ruhig ihre geliebte Tochter an und lächelte. Für diese Tochter war das Lächeln ihrer Mutter der schönste Anblick der Welt.

Plötzlich durchbrach ein lauter Schrei die Stille des Marktes: „Unabhängigkeit für Korea! Mansei!“ Als wäre sie eine Läuferin, die den Startschuss vernahm, zog die Frau schnell die koreanische Flagge aus ihrer Bluse hervor. Sie schwenkte sie energisch, schloss sich der Menge an und rief: „Mansei, Sieg für zehntausend Jahre!“ Mit all ihrer Kraft rief sie: „Unabhängigkeit für Korea! Mansei!“

Der erste Schrei war ein Signal, auf das hin viele Leute auf dem Markt koreanische Flaggen hervorholten und sie heftig hoch über ihren Köpfen schwenkten. Aus jeder Ecke des offenen Marktes erschallten die Rufe: „Unabhängigkeit für Korea! Mansei!“ Die Stimme dieser Frau war die lauteste von allen. Geschockt von dem plötzlichen Tumult und dem Auftauchen zahlreicher koreanischer Flaggen mussten Marktbesucher, die nicht auf diesen Aufstand vorbereitet waren, entscheiden, was sie tun sollten. Einige flohen aus Angst vor möglichen Konsequenzen. Andere, die an die Unabhängigkeit ihrer Nation glaubten, schlossen sich den Reihen der Demonstranten an.

Die Frau hatte diesen Tag sehnlichst erwartet. Sie war nächtelang mit ihrer Tochter wach geblieben und hatte mit zitternden Händen die Flagge ihrer Nation genäht. Sie saß dabei unter einer Petroleumlampe und sprach mit ihrer Tochter über Korea, seine Menschen, seinen Glauben, seine zeitlosen Traditionen und die Bedeutung der Mansei-Unabhängigkeitsbewegung. Das kleine Mädchen hörte seiner Mutter zu, nickte mit dem Kopf und nahm alles auf. Jetzt klammerte es sich an den Rücken seiner Mutter und hörte die Mansei-Rufe. Es spürte die Unschuld und Rechtschaffenheit seiner weiß gekleideten Landsleute, die dazu bereit waren, ihr Leben für das Existenzrecht ihrer Nation zu geben.

Die Unabhängigkeitsdemonstrationen des 1. März fanden nicht nur in Anju, sondern gleichzeitig in Seoul und im ganzen Land statt. An den meisten Orten wurde auch die koreanische Unabhängigkeitserklärung öffentlich verlesen. Dieser öffentliche Aufschrei war keine vergebliche Symbolik. Es war ein Akt des friedlichen, gewaltfreien Protests, ein Ruf, den das koreanische Volk für immer in Ehren halten wird.

* * *

Innerhalb weniger Augenblicke drangen Pfiffe und das Getrampel von Stiefeln in die Ohren der Demonstranten. Dutzende Polizisten liefen mit Schlagstöcken und Gewehren auf den Markt. Gnadenlos schlugen sie auf alle ein, die ihnen in den Weg kamen. Rechts und links wurden Menschen blutig zu Boden geschlagen. Die Polizisten unterschieden nicht zwischen Männern und Frauen, Jung oder Alt. Verzweifelt versuchte diese Mutter ihre Tochter zu beschützen. Sie hatte aber keine andere Wahl, als ihre Tränen zurückzuhalten und sich zurückzuziehen. Obwohl sie aufs äußerste entschlossen war, bis zuletzt durchzuhalten, wusste sie, dass weiteres Blutvergießen den Schmerz im Herzen Gottes nur noch vergrößern würde, weil Er sich gute Gemeinschaft unter den Menschen wünscht.

Und da war noch etwas anderes. Irgendetwas sagte dieser Mutter, dass die Zeit für ihre Nation noch nicht gekommen war, sich zu erheben. Es sagte ihr, dass in der Zukunft in Korea eine Frau mit einer noch nie dagewesenen Bestimmung geboren werden würde, eine Frau, die die Schablonen dieser gefallenen Welt sprengen würde. Mit diesem Hoffnungsschimmer im Herzen ertrug sie die Demütigung dieses Nachmittags.

In Übereinstimmung mit Gottes Vorsehung und dem absoluten Glauben und der Liebe gläubiger Christen seit biblischen Zeiten traf das, was diese Frau im Glauben empfing, 24 Jahre später ein. In ihre Abstammungslinie wurde die eingeborene Tochter Gottes geboren, die dazu berufen ist, die Träume dieser Frau zu erfüllen.

* * *

Anju, mein Geburtsort, war ein Zentrum des koreanischen Patriotismus und es ist kein Zufall, dass das Christentum in Korea zuerst in diesem Gebiet Fuß fasste. Diese Frau war meine Großmutter Jo Won-mo. Sie setzte ihre Unterstützung der Unabhängigkeitsbewegung fort und beteiligte ihre Tochter – meine Mutter – und später auch mich an ihren Aktivitäten.

Ich war gerade zwei Jahre alt, als die Geschichte meines Landes ihre nächste Wendung nahm: die Befreiung von der japanischen Besetzung. An diesem Tag, dem 15. August 1945, hatte meine Großmutter Jo Won-mo wieder ein Kind auf dem Rücken, während sie „Mansei!“ rief. Aber diesmal war ich das Kind. Und diesmal rief und schwenkte meine Großmutter unsere Nationalflagge voller Freude und Begeisterung für die neu gewonnene Freiheit unserer Nation.

Gott erwählte unsere Familie, eine Familie von drei Generationen mit jeweils nur einer Tochter. Jo Won-mo, meine Großmutter, eine Frau, die sich mit ganzem Herzen der Unabhängigkeitsbewegung verschrieb, war die einzige Tochter ihrer Eltern. Hong Soon-ae, meine Mutter, war ihre einzige Tochter, eine Frau, die sich mit Fleisch und Blut zielstrebig für ihren Glauben einsetzte, Christus bei seiner Wiederkunft zu begegnen. Ich war ihr einziges Kind, die einzige Tochter in der dritten Generation. Unter den unterdrückten Menschen der koreanischen Halbinsel wurde Gottes eingeborene Tochter geboren.

Während ich diese Worte im Jahr 2019, dem hundertsten Jahrestag der Unabhängigkeitsbewegung vom 1. März, niederschreibe, strebe ich danach, den Traum meiner Vorfahren, den Traum aller Generationen, die Vollendung von Gottes Vorsehung der Erlösung auf der ganzen Erde, zu erfüllen.


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