2.8 Getrennte Welten am 38. Breitengrad - Mutter des Friedens - Hak Ja Han Moon - Memoiren

Direkt zum Seiteninhalt

- Kapitel 2 - Ich kam als die eingeborene Tochter in diese Welt -



2-8

Getrennte Welten am 38. Breitengrad


„Du bist gekommen, um deine Mutter zu sehen?“ Der Wächter stellte diese Frage als eine Formalität; er wusste, warum ich dort war, denn ich kam jeden Tag.


„Ja, Herr“, antwortete ich mit meiner sanften Stimme.

„Warte hier“, sagte er in einem väterlichen Ton. „Ich werde sie für dich rufen. Möchtest du ein Bonbon?“

1948, als die Unterdrückung der Religionen durch die Kommunistische Partei Nordkoreas auf ihrem Höhepunkt war, wurden meine Mutter und meine Großmutter fast zwei Wochen lang inhaftiert, weil sie Mitglieder der Wiederkunft-im-Mutterleib-Kirche waren. Ich war damals fünf Jahre alt und ging zum Gefängnis, um meine Mutter zu sehen. Die Wärter waren nett zu mir, weil ich höflich war und mich gut benahm. Selbst diese skrupellosen Kommunisten gaben mir Obst oder Süßigkeiten, wenn sie mich sahen.

Ich kann mir nicht erklären, warum die Behörden beide freiließen, da die Partei die Unterdrückung religiöser Aktivitäten noch verstärkte. Vielleicht war es aus ihrer Sorge um mich. Das positive Ergebnis war, dass die Inhaftierung meine Großmutter davon überzeugte, dass sie nach Südkorea gehen mussten, um ein friedliches Leben und erst recht ein Glaubensleben führen zu können. Da Heo Ho-bin noch immer im Gefängnis war, hatte meine Mutter Zweifel, aber Großmutter überredete sie zu gehen.

„Wenn wir hier bleiben“, argumentierte sie, „werden wir sterben, bevor wir dem Herrn begegnen. Sobald wir in Südkorea sind und Soon-jeong getroffen haben, wird sich der richtige Weg zeigen.“ Die Erwähnung ihres jüngeren Bruders, meines Onkels Hong Soon-jeong, der sich im Süden darauf vorbereitete, Arzt zu werden, brachte meine Mutter ins Schwanken. Sie erhob einen letzten Protest, gab aber gleichzeitig nach: „Wie können wir ohne Ziel dorthin gehen? Wir haben nicht einmal eine Unterkunft.“

Meine Großmutter atmete tief durch und sagte dann mit Überzeugung: „Trotzdem müssen wir gehen. Gott wird uns beschützen.“

Mein Großvater schloss sich uns nicht an. Wie viele andere hatte er die Offenbarung erhalten, dass Pjöngjang der „Palast von Eden“ sei, und er war entschlossen zu bleiben, um ihn zu bewachen. Dennoch ermutigte er seine Frau und seine Tochter, in den Süden zu gehen. Da es ihr Lebensziel war, den Herrn bei seiner Wiederkunft in Pjöngjang zu treffen, musste meine Mutter mehrere Tage und Nächte lang beten, bevor sie schließlich zustimmte, nach Südkorea zu gehen. Sie ging unter der Bedingung, dass es nur vorübergehend sein würde.

Wie es der Zufall wollte, erhielten wir die Nachricht, dass Onkel Soon-jeong seine Studien in Japan und in Seoul abgeschlossen hatte und in die südkoreanische Armee eingetreten war. Mein Onkel war ein intellektueller, eleganter junger Mann. Außerdem war er sehr willensstark. Meine Großmutter vermisste ihren einzigen Sohn und wünschte sich sehr, ihn zu sehen. Darüber hinaus wollte sie mich, ihre Enkelin, um jeden Preis beschützen. Sie wollte verhindern, dass ich von grausamen Kommunisten entführt und durch ihre Hand leiden würde. Sie war aufrichtig, als sie mir im Laufe der Jahre immer wieder sagte: „Du bist Gottes wahre Tochter.“ Ihre Lebensaufgabe bestand darin, mich vor dem Unglück in der Welt zu beschützen.

Wie die meisten Menschen im Norden glaubte auch meine Familie, dass die Kommunistische Partei Nordkoreas nicht lange Bestand haben würde. Wir erwarteten, dass wir nach einem kurzen Aufenthalt in Südkorea den Untergang der Kommunisten erleben würden und nach Hause zurückkehren könnten. Wie die Geschichte zeigt, sollte dieser Traum nicht wahr werden. Rückblickend glaube ich, dass Gott durch das liebevolle Herz meiner Großmutter für ihren Sohn und ihre Enkelin gewirkt hat. Tatsächlich spiegelt das elterliche Herz einer Mutter das mütterliche Herz Gottes wider.

* * *

„Jetzt ist es dunkel“, flüsterte meine Mutter. „Lasst uns gehen.“

Es war Herbst, als wir im Jahr 1948 unser Haus mitten in der Nacht verließen. Meine Mutter trug mich auf dem Rücken und meine Großmutter trug ein paar Bündel. Von Anju bis zum 38. Breitengrad ist es ziemlich weit, 200 Kilometer Luftlinie. Wir mussten tagelang gehen, um diese Strecke zurückzulegen. Und jeder Schritt auf dieser Reise war begleitet von der bangen Angst um unser Leben. Nachts schliefen wir in leeren Häusern, und wenn der Morgentau fiel, brachen wir wieder auf. Unsere Schuhe waren dünn und die Straßen holprig und so schmerzten unsere Füße von Anfang an. Am schwersten zu ertragen war der Hunger. Wir klopften an die Türen schäbiger Hütten und gaben den Menschen etwas aus unseren Bündeln im Tausch gegen Lebensmittel, in der Regel eine Schale gekochte Gerste und Reis. Unter solchen Entbehrungen gingen wir immer weiter in Richtung Süden.

Die Kommunisten hatten die Felder umgepflügt und die Seitenstreifen der Straßen aufgerissen, um eine solche Reise noch schwieriger zu machen. Unsere Füße versanken im Schlamm, als wir durch die Felder gingen, und wir zitterten am ganzen Körper vor Kälte. Trotzdem gingen wir weiter und blickten nur auf das Sternenlicht.

Soldaten der nordkoreanischen Volksarmee, die den 38. Breitengrad blockierten, nahmen meine Mutter, meine Großmutter und mich mühelos gefangen. Sie sperrten uns in einen Schuppen ein, zusammen mit anderen verängstigten Menschen, die die gleiche Absicht hatten wie wir. Die Soldaten waren grob zu den Männern, aber Frauen und Kinder behandelten sie weniger streng.

Eines Tages bat mich einer der Erwachsenen, den wachhabenden Soldaten Essen zu bringen. Obwohl mein Herz innerlich zitterte, zwang ich mich zu einem Lächeln und überreichte den Soldaten das Essen. Nachdem ich dies mehrmals getan hatte, wurden die Herzen der Soldaten weicher und eines Abends ließen sie meine Familie frei. Sie wiesen uns an, in unsere Heimatstadt zurückzukehren. Wir gingen in diese Richtung, bis wir außer Sichtweite waren. Und dann, als wir am Scheideweg zwischen Leben und Tod standen, brach die Nacht herein. Wir warteten und der Himmel schickte uns einen jungen Mann, der uns auf den Weg des Lebens führen sollte. Im Schutze der Dunkelheit folgten wir ihm über den 38. Breitengrad.

Als wir ihn überquert hatten, war ich so glücklich, dass ich zu meiner Mutter sagte: „Wir müssen nicht länger Loblieder auf Kim Il Sung singen, oder? Ich will ein Lied aus dem südlichen Teil Koreas singen!“ Es stellte sich heraus, dass Gott auch auf diese Weise eingriff. Denn auch auf der südkoreanischen Seite hielten Soldaten strenge Wache. Als ich mit freudigem Herzen ein paar Zeilen des Liedes sang, hörten wir ein Rascheln in den Büschen vor uns. Wir waren überrascht und standen wie erstarrt da, aus Angst, dass wir wieder von nordkoreanischen Soldaten gefangen genommen würden. Aus dem Gebüsch tauchten Soldaten auf – Südkoreaner. Bei ihrem Anblick sanken wir vor Erleichterung fast zu Boden. Die südkoreanischen Soldaten sagten uns, dass sie uns gehört hätten, als wir uns näherten, und dass sie gerade auf uns schießen wollten. Als sie jedoch die Stimme eines Kindes singen hörten, hatten sie ihre Waffen gesenkt. Sie hießen uns willkommen und trösteten uns.

Ein Soldat sagte: „Es muss schwierig für euch gewesen sein, den ganzen Weg hierher mit diesem hübschen kleinen Kind zurückzulegen. Das hier ist nicht viel, aber bitte nehmt es.“ Wir waren diesem Soldaten so dankbar, den Gott dazu bewegte, uns etwas Geld zu geben, das uns reichte, um bis nach Seoul zu kommen.

Hätte ich in diesem Moment nicht gesungen, hätten uns diese jungen Soldaten wahrscheinlich mit nordkoreanischen Soldaten verwechselt und erschossen. Auf diese Weise beschützte Gott uns abermals. Nachdem wir Schwierigkeiten wie diese durchgemacht hatten, kamen wir schließlich sicher in Südkorea an. Doch indem wir diese Reise machten, trennten wir uns von meinem Großvater, den wir nie mehr wiedersahen. Südkorea war für uns völlig fremd. Da wir noch nie in Seoul gewesen waren, wussten wir nicht, wie wir überleben sollten. Ständig verirrten wir uns. Wir hatten auch den Ankerpunkt unseres Glaubens verloren. Die Hoffnung, dem wiederkehrenden Herrn zu begegnen, schwebte sozusagen in den Wolken. Wir hatten kein Geld und keine Fertigkeiten, mit denen wir unseren Lebensunterhalt verdienen konnten. Wir kampierten in einem schäbigen leeren Haus und überlebten gerade so von Tag zu Tag. Alles, was wir tun konnten, war, mit den Menschen zu reden.

Unsere vordringlichste Aufgabe war es, meinen Onkel mütterlicherseits, Soon-jeong, zu finden. Er war der einzige Mensch, auf den wir uns in Südkorea verlassen konnten, und wir hofften, dass er sich irgendwo in Seoul aufhielt. Meine Mutter flehte im Gebet: „Was soll ich tun, um meinen jüngeren Bruder zu finden?“ Sie betete jeden Tag sehr ernsthaft. Wir suchten in Krankenhäusern und Apotheken nach ihm.

Und dann erlebten wir eine unerwartete Fügung Gottes. Auf der Straße trafen wir einen Mann, der sich als Freund meines Onkels herausstellte. Dies war in der Tat Gottes providentielle Hilfe. Dieser Freund erzählte uns, dass Onkel Soon-Jeong im Hauptquartier der Armee im Seouler Stadtteil Yongsan diente. Nach seiner Rückkehr aus Japan hatte er die Hochschule für Pharmazie in Seoul absolviert und anschließend eine Ausbildung zum Pharmazeuten an der Koreanischen Militärakademie erhalten. Derzeit diente er als Oberleutnant.

Jener hilfsbereite Mann brachte uns nach Yongsan. Was für ein Wiedersehen war das! Soon-Jeong war hocherfreut, seine Mutter, seine Schwester und seine Nichte zu sehen. Er hatte keine Ahnung von den
Verhältnissen im Norden und war sehr betroffen, als er hörte, was wir durchgemacht hatten, um nach Seoul zu gelangen. Sofort mietete er ein kleines Zimmer für uns in Hyochang-dong.

* * *

Unser Leben im Süden stabilisierte sich bald. Ich ging zum ersten Mal zur Schule und kam in die Hyochang-Grundschule im freien Land Südkorea. Ich liebte es, jeden Tag mit meinen Büchern in der Tasche die Schule zu besuchen. Die älteren Bewohner des Viertels tätschelten meinen Kopf und auch die Nachbarskinder mochten mich sehr gern. Wenn ich zurückblicke, finde ich es interessant, dass unser gemieteter Raum in der Nähe von Cheongpa-dong lag, dem Viertel, in dem wir sieben Jahre später unsere Suche nach dem Herrn der Wiederkunft abschlossen. Bis dieser Tag jedoch kam, mussten wir auf unserer Odyssee noch viele überraschende Wendungen ertragen.

Während wir in Hyochang-dong lebten, hörten wir die Nachricht, dass Jeong Seok-cheon, der älteste Sohn der Gründerin der Kirche des Heiligen Herrn, sich in Südkorea befand. Wir betrachteten dies als ein Wunder und beteten, dass Gott uns führen möge, ihm zu begegnen. Wir dankten Gott, dass mein Onkel als Armeeoffizier
diente und dass Jeong Seok-cheons Familie in den Süden gekommen war. Zweifellos bereitete Gott einen Weg vor, um diejenige zu schützen, die berufen war, der Menschheit zu dienen, und der Er die Vorsehung anvertrauen würde. Jetzt, da wir auf unserer physischen Pilgerreise eine Oase erreicht hatten, war es an der Zeit, unsere spirituelle Pilgerreise zu erneuern.



START | ZURÜCK | WEITER

.

Zurück zum Seiteninhalt